Was wir von Gramsci lernen müssen

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Vor jedem offensichtlichen politischen Umbruch herrscht eine Zeit, in der Dinge im Untergrund in Bewegung geraten. In so einer Zeit befinden wir uns heute: Die linksliberale Hegemonie bröckelt und das rechtsalternative Meinungsspektrum ist dabei, die Vorherrschaft zu übernehmen. In diesen Zeiten ist Antonio Gramsci der Denker der Stunde.

Wer sich daran stört, dass dieser als genuin linker Denker rechten oder auch konservativen Kräften nichts zu sagen hätte, hat nichts verstanden. Politische Theorie und Methodik ist von ihren Inhalten zu trennen; zumal, wenn sie erfolgreich sind oder sein wollen. Sogar linke Soziologen gestehen inzwischen zähneknirschend ein, dass weite Teile der strategischen und intellektuellen Neuen Rechten Gramsci inzwischen besser einsetzen als sie selbst. Daher rührt der Erfolg des „Rechtsrucks“.

Dass Gramscis Denken so gut auf die heutige Zeit passt, rechten Kräften aber zugleich auch dienlich ist, liegt insbesondere an seiner Unterscheidung zwischen „Alltagsverstand“ und „gesundem Menschenverstand“.

„Alltagsverstand“ ist die Summe aus typischen Denkweisen und -mustern, wie sie in breiten Schichten der Zivilgesellschaft vorzufinden sind. Es handelt sich um Gemeinplätze, um weitverbreitete Ideen und Glaubenssätze, welche die Öffentlichkeit unreflektiert über- und aufnimmt.

Wer die typischen Glaubenssätze des beinah überall vorzufindenden Alltagsverstandes nicht für sich übernimmt, zieht sich aus der Öffentlichkeit zurück oder wird aus ihr herausgedrängt. Durch die Verbreitung gleichförmiger, und den Rückzug ungleicher Meinungen, verfestigt sich die kulturelle Hegemonie eines Ideenbündels zunehmend. Trotzdem verändert sich der Alltagsverstand fortwährend: Was vor zehn Jahren noch als Gemeinplatz und selbstverständlich galt, ist es heute teilweise beileibe nicht mehr. Die großen „Meinungsmacher“ wie Fernsehen, Radio, Kino, Zeitungen, Skandalberichterstattung und vor allem die ständige Wiederholung zentraler Glaubenssätze beeinflussen den Alltagsverstand fortlaufend.

Das bedeutet: Dieser Alltagsverstand ist formbar. Das bedeutet aber auch: Man muss ihn kennen, um ihn beeinflussen zu können. Nur wer das Volk nicht verachtet, kann wissen, was ihm wichtig ist und was es bewegt. Nur dann kann es gelingen, die eigenen Ideen und Lösungen als Glaubenssätze unterzubringen.

Mitunter verstärkt sich die meinungsbildende Kraft des Alltagsverstandes so sehr, dass sie augenscheinlich allen „gesunden Menschenverstand“ missen lässt. Dabei ist gerade dieser gesunde Menschenverstand der Kern des ideologisch überformten Alltagsverstandes. Der gesunde Menschenverstand ist der rationale und logisch denkende Boden, auf welchem sich der eingepflanzte Alltagsverstand erst entwickeln kann. Der Alltagsverstand ist dabei passiv und unbewusst vom Menschen mitgetragen. Der gesunde Menschenverstand ist der aktiv bewusste Teil.

Netflix, Tagesschau, Tatort und Amazon machen es vor: Beeinflusst wird die öffentliche Meinung – und damit die kulturelle Hegemonie – auf dem unterschwelligen Feld des Alltagsverstandes.

Jeder Mensch denkt und handelt ideologisch; die einen bewusst, die anderen unbewusst. Bei den einen herrscht der gesunde Menschenverstand vor, bei den anderen der Alltagsverstand. Wer politisch etwas bewegen will, muss daher ideologisch beziehungsweise weltanschaulich auftreten.

Die Abwertung des Begriffs „Ideologie“ als realitätsferne Kopfgeburt ist daher ähnlich fehlerbehaftet wie die Feindschaft gegenüber sämtlicher politischer Theorie. Nur wer weltanschaulich etwas anzubieten hat, kann den Alltagsverstand der Menschen für sich einnehmen. Nur wer Ideen verbreitet, darf hoffen, dass diese Ideen irgendwann Wirklichkeit werden. Nur wer von Ideen begeistert ist, kann politische Gestaltungsmacht erlangen und sie in seinem Sinne einsetzen.

Wer „Ideologiefreiheit“ als vermeintliches Ideal propagiert, merkt nicht, dass er immer noch von der Idee des politischen Gegners abhängig ist und diesen folglich nicht überwinden kann. Mehr noch: Wer den Mut zur Weltanschauung nicht aufbringt, kann auch keine konsistenten Lösungen und Visionen anbieten. Die aber braucht es, um in die Lücken der absterbenden linksliberalen Hegemonie vorzustoßen. Nutzt die Neue Rechte diese Risse nicht aus, werden sie von anderen aufgefüllt. Theorie und Praxis je für sich allein genommen sind wertlos. Sie müssen sich ergänzen und voneinander lernen. Das gilt – anhand der hier gezeigten Untersuchungen – eben auch für die Theorie Antonio Gramscis.

Neben der durch Journalisten alltäglich verbreiteten Propaganda sind für die Formung des Alltagsverstandes insbesondere die von Gramsci sogenannten „organischen Intellektuellen“ von Bedeutung. „Intellektueller“ ist für Gramsci jeder, der in irgendeiner Weise eine sozialorganisatorische Funktion ausübt. Professor, Philosoph, Journalist oder ein anderer „Kopfarbeiter“ muss er dafür nicht sein. Wichtig ist, dass der „Intellektuelle“ im Sinne Gramscis auf seine Weise anderen Menschen – offen oder beiläufig – Weltbilder und Ideen vermittelt.

„Organische Intellektuelle“ gehen für Gramsci nun noch darüber hinaus. Sie sind fest in einer Ideologie mit konkret formulierten weltanschaulichen Zielen eingebettet und fügen sich mitsamt ihrer Tätigkeit „organisch“ in die Verbreitung ihrer Ideologie ein. Diese Unterscheidung ist nun wichtig: Organische Intellektuelle verbreiten ihre Ideen gezielt und bewusst. Nur sie können eine neue kulturelle Hegemonie aufbauen, da sie nicht mehr vom weitverbreiteten Alltagsverstand abhängig sind.

In politische Formen gebracht bedeutet das: In jeder Gesellschaft gibt es die Vielen – das Volk –, welches intuitiv „fühlt“, was richtig und was falsch ist. Und es gibt eine politische und ideologische Elite, die „weiß“, was sie zu tun hat. Wenn sie es nicht mehr weiß, verliert sie ihre Position.

Der Populismus erreicht den Alltagsverstand der Menschen, aber er allein verändert noch nichts. Es ist daher wichtig, das „Regieren-wollen-um-jeden-Preis“ zu verhindern. Umfragewerte schwanken schnell, aber viel wichtiger ist die langfristige Lenkung des Alltagsverstands. Metapolitik ist die mühsame Saat dessen, was partei- und realpolitisch geerntet werden kann. Wer zu früh ernten will, wird gar nicht ernten.

Dazu ist es wichtig, dass Partei und Vorfeld, aber auch die politischen Akteure innerhalb der Partei, im Großen und Ganzen zusammenarbeiten. Natürlich darf es Diskurse über Fragen der konkreten Ausgestaltung geben, aber Einzelgänge und offene Brüche gefährden den gesamten „historischen Block“. Dieser ist für Gramsci das Zusammenwirken unterschiedlicher sozialer Schichten und Milieus unter einer gemeinsamen kulturellen Hegemonie. Dieser dauerhaft gesellschaftliche Konsens muss das Ziel jeder alternativen politischen Bemühung sein. Nicht jedoch die maximale Anschlussfähigkeit an das bestehende, untergehende Establishment.

Der historische Block besteht folglich aus der politischen und der Zivilgesellschaft. Grob: Die politische Gesellschaft ist „der Staat“. Zivilgesellschaft dagegen ist alles nicht-staatliche, sondern private, wie insbesondere Vereine oder NGOs. Beide wirken zusammen: Die politische Gesellschaft übt ihre kulturelle Hegemonie über die Zivilgesellschaft aus. Sie ist ihr „harter Kern“. Die Zivilgesellschaft wiederum sichert die politische Gesellschaft ab. Die Kombination beider nennt Gramsci den „integralen Staat“.

Verschiedene weitere Denker haben eine ähnliche Trennung zwischen hard power und soft power vorgenommen. Letztlich läuft die Idee darauf hinaus, dass der funktionierende Staat zur Sicherung seines Fortbestands sowie der öffentlichen Zustimmung „Zuckerbrot und Peitsche“ kombinieren muss. Er verbreitet seine Ideen, und sichert diese notfalls durch die Staatsgewalt ab.